Last updated on Februar 9, 2020
…und cis sind sie auch nicht
Dieser Blogpost erschien ursprünglich am 18.02.2017 auf nooborn.wordpress.com. Da ich den alten Blog stillgelegt habe, findet sich der Text nun hier.
Inhaltshinweis: im folgenden Blogpost werden psychische Erkrankungen, Mobbing und Suizid erwähnt.
„So ein kleiner Charmeur, dem werden aber die Mädels in Scharen hinterherlaufen.“
„Na, vielleicht ja auch die Jungs“, sage ich und nehme noch einen Schluck Kaffee. Entsetzen in den Augen, aber nur kurz. „Ja, ja… das wäre natürlich auch in Ordnung.“ beeilst du dich zu sagen und sorgenvoll streift dein Blick über dieses Kind, das du geboren hast.
Im Ernst: Ich kann es nicht mehr haben. Diese Pseudotoleranz. Dieses „es ist okay, wenn ANDERE so sind“. Eure Kinder sind potentiell auch „so“.
Eure Kinder sind homo-, bi(+)- und asexuell. Sie sind polyamurös. Sie sind trans, sie sind nonbinary, sie sind agender. Und so vieles mehr.
Das sagt euch alles nichts? Googelt. Und nehmt die verdammten Scheuklappen ab.
Ihr habt nicht die Definitionsmacht über eure Kinder. Und wenn ihr sie euch aneignet, dann ist es genau das: eine Aneignung von Macht.
Indem ihr von künftigen Schwiegerkindern des „anderen“ Geschlechts träumt.
Indem ihr Zuschreibungen macht auf Grund des Genitals mit dem eure Kinder zur Welt kamen.
Indem ihr euch wünscht euer Kind möge mit einem bestimmten Genital auf die Welt kommen, weil ihr mit diesem Genital bestimmte Dinge verbindet.
Indem ihr kleinen Menschen mit Penis nicht die gleiche Kleidung anzieht wie kleinen Menschen mit Vulva, einzig und allein weil sie einen Penis haben.
Ihr steht auf Glitzerkleider mit Rüschen und Schmetterlingen und Schleifchen? Dann zieht sie euren Kindern an! Egal was unter dem Kleid ist!
Ihr wollt lieber Monstertrucks-Pullover und Gummistiefel über Breitcordhose mit Kniebesatz? Dann zieht sie euren Kindern an! Egal welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Aber der Kindergarten. Aber die Schule. Aber die Gesellschaft.
Die Angst vor Hänseleien, vor Mobbing, vor Übergriffen ist groß. Leider ist sie scheinbar so groß, dass die meisten Kinder bereits von den Eltern in Schablonen gepresst werden, mit denen die Gesellschaft dann noch ein bisschen weiter formt. Am Ende hat das Kind entweder halbwegs in die Schablone gepasst, oder es muss sich „outen“, ein unglückliches Leben führen, oder es bringt sich um (ja, die Depressions- & Suizidrate unter nicht-hetero und nicht-cis Teenagern ist deutlich erhöht).
Aber wenn ihr eurem Kind mit Penis keine Kleider anzieht weil „es ein Junge ist“, dann definiert ihr dieses Kind. Das ist nicht was/wer euer Kind ist, sondern wie ihr es definiert. Und in diesem Rahmen wächst euer Kind dann. Will es anders wachsen, weil es anders ist, muss es den von euch gesteckten und von der Gesellschaft verfestigten Rahmen sprengen. Das ist ein anstrengender Akt.
Im Grunde ist die Abwägung also potentielles Mobbing oder potentielles „outen“ müssen. Wobei ich euch versichern kann, dass Kinder die sich outen müssen sowieso mit hoher Wahrscheinlichkeit gemobbt werden #füreuchgetestet.
Ein Kind das ein bisschen aus der Reihe tanzt wird hingegen nicht mit ganz so hoher Wahrscheinlichkeit gemobbt, manchmal werden diese Kinder auch zu den ‚cool kids‘ oder einfach nur zu denen die weder ganz oben in der Coolness-Hackordnung stehen, noch ganz unten. Denn bei Mobbing spielen ganz, ganz viele Faktoren eine Rolle.
Gebt den Kindern alle Möglichkeiten. Ihr wollt eurem Kind mit Penis kein Kleid anziehen? Wenn ihr es einem Kind mit Vulva anziehen würdet, dann beschneidet ihr das Kind mit Penis in seinen Möglichkeiten. Das könnt ihr natürlich machen. Aber dann erzählt nicht, ihr würdet dem Kind alle Möglichkeiten geben.
„Wenn mein Junge sich das wünscht, dann darf er natürlich ein Kleid anziehen!“ sagst du, legst den Kopf schief und schaust beleidigt, schließlich bist du ja tolerant.
„Aber: wenn du ihn nur in der ‚Jungen‘-Abteilung einkleidest, dann wird er eher nicht so schnell darüber stolpern, dass er Kleider schön findet.“ Erwidere ich.
„Na, man muss das ja nicht so forcieren!“ entgegnest du und schüttelst den Kopf ein wenig.
Ich persönlich finde es ja sehr interessant, dass von forcieren, aufzwingen und anerziehen irgendwie sehr selten die Rede ist, wenn darüber gesprochen wird die Kinder als hetero und cis zu behandeln, nur, weil sie mit Penis oder Vulva geboren worden sind.
Mir wird häufig vorgeworfen ich würde „es“ übertreiben mit der „Genderagenda“ und unseren Kindern Schaden zufügen. Weil ich beiden Kindern die gleichen Klamotten anziehe (ja, auch rosa und Kleider). Weil beide mit dem gleichen Spielzeug spielen. Weil ich darauf achte dem einen Kind nicht ständig „Sei vorsichtig!“ und demanderen Kind „Du schaffst das!“ zuzurufen, sondern beide Kinder gleichermaßen zu ermutigen und zur Vorsicht anzuhalten, wenn es wichtig ist (Verbrennungsgefahr, Straßen & die allseits beliebte „Dein Hinterkopf knallt gleich mit Schwung auf eine harte Kante!“ Situation). Weil ich beim Vorlesen gerne mal die Geschlechter der Figuren anpasse, damit auch mal eine mutige Feuerwehrfrau Großartiges leistet oder ein Mann heftig weint, weil er traurig ist oder eine nicht binäre Person auftaucht. Weil ich den Kindern nicht sage „Jungs haben einen Penis und Mädchen eine Vulvina“ sondern „Es gibt Menschen mit Penis und Menschen mit Vulvina.“.
Unser älteres Kind (2,5 Jahre) sucht sich die Klamotten inzwischen überwiegend selbst aus. Es liebt Glitzer, Schmetterlinge, grün, orange, dunkelblau, Bagger, Autos und Drachen. Sollte es eine rosa-Prinzessinnen-Phase haben ist das okay (und der Papa freut sich, der steht auf rosa, Glitzer und Einhörner. Ich nicht so.). Sollte es eine Superheld*innen-Phase haben ist das okay (auch wenn weder der Papa noch ich uns für Superheld*innen sonderlich interessieren. Sollte es anfangen nur noch schwarz zu tragen mit bunten Socken dazu ist das okay (und ich freue mich über mini-me auch wenn der Papa vielleicht lieber etwas buntere Klamotten sähe).
Es gibt nur wenig Kleidung die ich verbieten würde (sexualisierende Kleidung und fast alle Schuhe aus der „Mädchenabteilung“, die haben nämlich oft kein anständiges Profil. Guckt selbst nach.), mit Sicherheit wäre ich aber diskussionsbereit dem Kind gegenüber.
Versteht mich nicht falsch: Wenn ihr eure Kinder mit Vulva als Mädchen definieren und sie in rosa Glitzerklamotten stecken wollt: tut das! Wenn ihr eure Kinder mit Penis als Jungen definieren wollt und sie von klein an in Fußballtrikots kleiden möchtet: tut das!
Aber erzählt dann nicht, ihr wärt supertolerant und würdet euren Kindern alle Möglichkeiten lassen und die #rosahellblau Falle wäre ja wirklich Mist. Dann seid so ehrlich und sagt: ich ordne meinem Kind ein Geschlecht zu, ich gehe davon aus, dass es sexuell aktiv sein wird und zwar hetero.
Denn indem ihr eure Kinder im binären System einordnet, indem ihr ihnen von Anfang an eine (so nicht vorhandene) Zwei-Geschlechter-eine-Sexualität-Welt vorlebt, prägt ihr sie. Indem ihr unterteilt in Jungssachen und Mädchensachen. In Spiele die Jungen mögen und Spiele die Mädchen mögen. Indem ihr betont, euer Mädchen sei ja AUCH technikbegeistert, es aber bei Jungen voraussetzt.
Gibt es angeborene Unterschiede (die über die körperlichen Merkmale hinaus gehen) zwischen Menschen die als männlich und Menschen die als weiblich definiert werden? Möglich. Aber ich zweifle daran. Ich gehe davon aus, dass der größte Teil der Unterschiede erworben und anerzogen ist. Interessant ist dazu zum Beispiel dieser Artikel bei Spektrum. Und es gibt ja, wie weiter oben schon erwähnt, Menschen die sich von Geburt an nicht so einfach im binären System definieren lassen (und trotzdem oft definiert und bis heute operiert werden).
Was ihr euren Kindern als normal vorlebt, werden sie als normal wahrnehmen. Euer Einfluss lässt mit wachsendem Radius des Kindes nach. Gut möglich, dass sie in Kindergarten, Schule & Co mit starren Stereotypen zu tun haben werden. Entweder sind sie die dann schon von zu Hause gewohnt – oder sie wissen eben um die Alternativen und können sich und anderen den Rücken stärken, wenn mal etwas nicht in die Norm passt.
Noch wichtiger als das, was ihr euren Kindern erzählt, ist, was ihr euren Kindern zeigt. Wenn zuhause „die Mama“ alles macht und „der Papa“ nach der „Arbeit“ die Füße hochlegt; wenn „die Mama“ kichernd das Glas das sie nicht aufbekommt an den „Mann“ reicht und verkündet er müsse das öffnen, sie als Frau könne das nicht; wenn „der Papa“ der einzige im Haus ist der ein Loch in die Wand bohren kann, … kurz: wann immer ihr mit Genderstereotypen kokettiert oder diese tatsächlich an den Tag legt, dann wird euer Kind das aufsaugen wie ein Schwamm (Nachtrag 22.02.: es geht hier ausschließlich um das Bedienen von Stereotypen. Es ist ein Unterschied ob gesagt wird „Mach du bitte das Glas auf, du bist kräftiger.“ oder „Dieses Glas muss ein starker Mann wie Papa öffnen.“).
Was Wirklichkeit ist, was gut ist, was schlecht ist, was akzeptiert ist: Das alles lernen eure Kinder zuerst von euch. Wenn euer Kind nicht cis und hetero ist, wird es sich eines Tages outen müssen. Vielleicht ja wenigstens nicht euch gegenüber.
Der Gedanke, dass sich ein Kind vor seinen Eltern nicht outen muss, weil sie ihr Kind kennen bzw. was es eigentlich bedeutet, wenn es das „muss“, hat mich gerade zum Weinen gebracht. Danke für den schönen Artikel.
sehr gut geschrieben und zum nachdenken angeregt. werden das beachten bei der erziehung unseres kindes.